Erlebnisse und Erkenntnisse

 

 

"Den nächsten Planeten bewohnte ein Säufer. Dieser Besuch war sehr kurz, aber er tauchte den kleinen Prinzen in tiefe Schwermut. – 'Was machst du da?' fragte er den Säufer, den er stumm vor einer Reihe voller Flaschen sitzen sah. – 'Ich trinke', antwortete er mit düsterer Miene. – 'Warum trinkst du?' fragte ihn der kleine Prinz. – 'Um zu vergessen', antwortete der Säufer. 'Um was zu vergessen?' erkundigte sich der kleine Prinz, der ihn schon bedauerte. – 'Um zu vergessen, daß ich mich schäme', gestand der Säufer und senkte den Kopf. – 'Weshalb schämst du dich?' fragte der kleine Prinz, der den Wunsch hatte, ihm zu helfen. – 'Weil ich saufe', endete der Säufer und verschloß sich endgültig in sein Schweigen."       
Aus  "Der kleine Prinz"  von Antoine de Saint-Exupery

 


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Der Tiefpunkt

Von jetzt an verkrieche ich mich in meinem Zimmer, nehme das Telefon nicht mehr ab, mache die Fensterläden zu, mauere mich lebendig ein. Wenn an die Tür geklopft wird, wage ich nicht mehr zu antworten: "Herein", ich halte den Atem an und warte, dass sich die Schritte entfernen.

Ich schließe meine Zimmertür zu und gehe erst hinaus, wenn es dunkel wird. Mein Zimmer liegt im ersten Stock, und der Weinschrank befindet sich im Erdgeschoss neben der Küche.

Gegen Mitternacht schleiche ich die Treppe hinab. Noch dreizehn Jahre später erinnere ich mich, dass die letzte Stufe vor dem Absatz knarrte, und ich sie überspringen musste, um niemanden zu wecken. Auch die Türklinke knarrt. Dann stehe ich vor dem Wandschrank. Beim Öffnen der Flasche muss man den Korken festhalten, damit er nicht quietscht. Ich trinke aus der Flasche. Ich mache den Schrank wieder zu. Ich gehe fünf Schritte im Korridor, um wieder die Treppe zu meinem Zimmer hinaufzusteigen. Aber... ich gehe wieder zum Schrank zurück. Um die Flasche zu öffnen, drücke ich den Korken zusammen, ich trinke aus der Flasche. Als ich die Tür zum Gang aufmache, fällt mir ein, dass der Kellermeister die dreiviertel leere Flasche finden wird, ich trinke sie aus und verstecke sie hinter einer vollen Flasche.

Schließlich gehe ich todunglücklich in mein Zimmer zurück. Und diese beschämende Komödie wiederholt sich zwei Stunden später. Es lebe die Nacht, Kinder, der Tag wird lang. Und endlich schlafe ich von Angst überwältigt em.

Als der Kellermeister merkte, dass sich sein Vorrat ungewöhnlich schnell verminderte, schloss er den Weinschrank ab. Vorwurfsvolle Stimmung im Haus, Schweigen, schweigende Verachtung breitet sich aus, Blicke wenden sich ab. Es liegt wie Mehltau auf unseren Beziehungen, und das tut so weh, dass nur ein Ausweg bleibt: trinken.

Um trinken zu können, obwohl der Schrank abgeschlossen ist, nahm ich den Wagen und fuhr nach Metz (120 km Hin- und Rückfahrt). Ich parkte vor den erleuchteten Fenstern des Bahnhofrestaurants, schloss den Wagen ab und die Gewissheit, etwas zu trinken zu bekommen, löste die Spannung. Ich hatte keine Eile. Ich bestelle einen Halben, schließlich zwei.

Kaum bin ich wieder draußen, fängt die gleiche Komödie wie zu Hause an: ich gehe wieder zurück zur Theke. Einen Halben, noch einen Halben.

"Das ist Wahnsinn!"

"Das ist die Krankheit."

Die, die das gleiche durchgemacht haben, verstehen sofort. Die, die intelligent sind (ohne krank zu sein), verstehen es ungefähr. Die anderen verstehen nichts und beurteilen uns falsch.

Ich gestehe, dass ich nichts von dem begriff, was mir passierte. Auch die anderen verstanden nichts. Ich verstand nicht, dass die anderen nichts begriffen. . .. Grässliche Momente.

Aus  "Warum war die Nacht so lang (Wie ich vom Alkohol loskam)"  von Aime Duval

 


  

Wenn du

einem geretteten Trinker begegnest,
dann begegnest Du einem Helden.
Es lauert in ihm schlafend der Todfeind.
Er bleibt behaftet mit seiner Schwäche und setzt seinen Weg fort
durch eine Welt der Trinkunsitten,
in einer Umgebung, die ihn nicht versteht,
in einer Gesellschaft, die sich berechtigt hält,
in jämmerlicher Unwissenheit auf ihn herabzuschauen,
als auf einen Menschen zweiter Klasse,
weil er es wagt,
gegen den Alkoholstrom zu schwimmen.
Du sollst wissen:
"Er ist ein Mensch erster Klasse!"

                                                 Friedrich von Bodelschwingh

 


 

John Steinbeck
1902-1968
Der Hund, der nicht bellte...

Der Alkoholiker ist ein Mensch,
der sich entweder dafür oder dagegen entscheiden kann,
also entscheidet er sich dafür.

Die ersten drei amerikanischen Männer, die den Nobelpreis für Literatur erhielten, waren Sinclair Lewis, Eugene O'Neill und William Faulkner: allesamt Alkoholiker. Der Vierte war Hemingway, der es zwar nicht gerne hörte, wenn man ihn einen Alkoholiker nannte, wahrscheinlich trotzdem einer war. Der Fünfte war John Steinbeck. Wer von Steinbeck spricht, betont für gewöhnlich, dieser sei nicht etwa ein Alkoholiker, sondern ein schwerer Trinker gewesen. Es steht zu vermuten, dass alle Alkoholiker schwere Trinker sind, jedoch schwere Trinker nicht alle Alkoholiker sind. Es kommt letztendlich auf die Definition an.

Der Zustand, den man Alkoholismus nennt, muss genau bestimmt werden. Eine Krankheit einfach auf den Namen Alkoholismus zu taufen, hilft nicht sehr weit. Das Wörterbuch definiert Krankheit als Gegenteil von Gesundheit; Gesundheit definiert es als Abwesenheit von Krankheit. Krankheiten sind im Grunde Schwierigkeiten, welche Menschen dazu veranlassen, den Arzt aufzusuchen. Historisch gesehen passt keine Definition besser als diese.

Alkoholismus wird heutzutage durch die damit verbundenen Probleme definiert. Wenn man trinkt und dadurch in Schwierigkeiten gerät, ist man Alkoholiker. Trinkt man ohne Schwierigkeiten, ist man kein Alkoholiker. Nur über die Zahl der erforderlichen Schwierigkeiten ist man sich nicht einig. Und wie ernsthaft müssen Schwierigkeiten sein, und wie häufig müssen sie auftreten, damit jemand zum Alkoholiker erklärt wird? Geriet Steinbeck durch Alkoholgenuss in Schwierigkeiten? Wenn ja, wie oft? Wie schlimm? Außer für diejenigen, die Steinbeck sehr gut kannten, war eine Antwort auf diese Fragen bis 1984 völlig unmöglich. Steinbeck legte sehr großen Wert auf sein Privatleben, er schrieb sehr wenig über sich selbst, geschweige denn über seine Trinkgewohnheiten.


„Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung“

Antoine de Saint-Exupéry

 


"Alkoholiker ist der, der ohne Trinkspruch trinkt"

Russisches Sprichwort

(So einfach ist das?)


"Die Entgiftungsstation ist der einzige Ort auf Erden, wo Sie bereits beim Einchecken gefragt werden, ob Sie etwas aus der Minibar hatten. In manchen Fällen wird es durchaus gerne gesehen, wenn der Patient noch einen kleben hat, denn dann haben die Fachleute den gesamten Entzugsvorgang auf dem Schirm und können besser mit den Medikamenten kalkulieren, um Komplikationen vorzubeugen. Nach der Aufnahme und der körperlichen Untersuchung bekommen Sie Ihr Bett zugewiesen und - je nach Institut - wird Ihr Gepäck gefilzt. Da heißt es eventuell: Auf Wiedersehen, Hattrick!"

Es geht ein Entzug nach Nirgendwo. Machen Sie sich auf den Weg!

Aus  "Alk"  von Simon Borowiak


"Der Wodka ist eine Wahrheit, die man immer erst zu spät begreift."

Aus der Erzählung "Die Schlinge" von Marek Hlasko (1934 - 1969)


"Ich leide ja nicht nur an einem Hang zum Trinken, sondern bin seelisch krank, falle von einer Krise in die andere, zwischen dem Streben zum Guten und einem unseligen Trieb, mich selbst zu zerstören, hin- und hergeworfen... Dabei bin ich mir meines verachtenswerten Zustandes wohl bewußt..."

Josef Weinheber (1892 - 1945)


"Was andere wollten -
der ich sein sollte
was ich wollte -
der ich sein sollte
und der ich bin
sind drei
verschiedene.
"

Aus "Sprechübungen eines Unterkühlten" von Bodo Rulf


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Wie oft und wie sagenhaft viel überall gesoffen wird, fällt einem erst auf, wenn man selbst gar nichts mehr trinkt. Mit einem Wasserglas in der Hand wird man, weil der Nichttrinker automatisch als dubios empfunden wird, an einem gut flirrenden Abend hin und wieder nach dem Grund für dieses immerfortige Wassergetrinke gefragt; da schwingt die Bitte mit, doch vernünftig zu sein und also mitzutrinken, und diese Frage wird häufig angeleint mit einem nachgestellten, beinahe pietätvollen, mich immer anekelnden "Wenn ich fragen darf" oder – nachdem geklärt ist, dass es sich um Wasser handelt in meinem Glas, ja, genau wie vorhin und genau wie in einer Stunde: Wasser – mit der widerlich behutsamen Nachfrage: "Schon immer, oder ...?"; die vielsagende Pause nach dem "oder" gilt es dann gemeinsam zu genießen. Meine Kurzerklärung lautet: Ich habe es mal eine Weile lang übertrieben und lasse es deshalb jetzt vorsichtshalber komplett bleiben.
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Aus 'Die Welt' 29.12.2012 von Benjamin von Stuckrad-Barre